A. Henkelmann: Caritasgeschichte zwischen kath. Milieu und Wohlfahrt

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Titel
Caritasgeschichte zwischen katholischem Milieu und Wohlfahrtsstaat. Das Seraphische Liebswerk 1889–1971


Autor(en)
Henkelmann, Andreas
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte 113
Erschienen
Paderborn 2008: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
508 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Matthias Schmidhalter, Rom

«Kinderseelen retten ist das göttlichste aller Werke!» Mit diesem und ähnlichen Aufrufen begann in den 1890er Jahren der Siegeszug einer katholischen Vereinigung, die heute noch existiert, aber weitgehend unbekannt ist: Das Seraphische Liebeswerk zur Rettung verwahrloster und sittlich gefährdeter Kinder, gegründet im Jahre 1889 in Koblenz-Ehrenbreitstein von Mitgliedern des franziskanischen Drittordens unter der Leitung des Kapuzinerpaters Cyprian Fröhlich. Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung vor dem Ersten Weltkrieg gehörten dem katholischen Sammel- und Erziehungsverein 400’000 Mitglieder an.

Die vorliegende Dissertation von Andreas Henkelmann wurde im Jahre 2005 an der katholisch-theologischen Fakultät der Bochumer Ruhr-Universität eingereicht und erschien 2008 als Veröffentlichung der Kommission für Zeitgeschichte. Sie fügt sich damit in eine Reihe von Forschungen zur Geschichte des deutschen Katholizismus ein. Das religiöse und kirchliche Alltagsleben der deutschen Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert ist gegenwärtig vermehrt Gegenstand der Zeitgeschichtsforschung. Der Blick richtet sich auf die Entstehung, die Veränderungen und die Auflösung einer geschlossenen katholischen Lebenswelt in Mitteleuropa, die sozial- und mentalitätsgeschichtlich als «katholisches Milieu» gefasst wird. Andreas Henkelmann möchte anhand einer Untersuchung des Liebeswerkes Aufschlüsse bekommen über die wissenschaftlichen Möglichkeiten das katholische Milieu in Deutschland zu untersuchen und Auskünfte über dessen Struktur gewinnen.

In seiner äusserst fundierten Darstellung geht Henkelmann von dem katholischen Milieubegriff und seinen Grenzen und Möglichkeiten aus. Anhand des Seraphischen Liebeswerks erforscht er das katholische Milieu, wobei er die Wechselseitigkeit betont. Es geht ihm um den Aufweis der Bedeutung des katholischen Seraphischen Liebeswerks von der Gründung bis zur Erosion in den 1970er Jahren: Vor allem seine innere Struktur aber auch sein Verhältnis zur Kirche, zu Staat (Kulturkampf) und Gesellschaft sind Thema der 500 Seiten umfassenden Studie.

Fünf chronologisch aufeinander folgende Hauptteile liefern einen klar strukturierten Einblick in die Entwicklung des Seraphischen Liebeswerks. In Teil 1 beschreibt der Verfasser die Gründungsphase des Seraphischen Liebeswerks. Ohne Unterstützung der Amtskirche wurde 1889 ein caritativer Verein ins Leben gerufen, der schon drei Jahre nach seiner Gründung über 50’000 Mitglieder zählte. Die soziale Frage sollte hauptsächlich durch die religiöse Erziehung von Kindern gelöst werden und dementsprechend galt die Hauptaufgabe des Liebeswerks der Unterstützung der Kinder, deren katholische Erziehung nicht länger gewährleistet war.

Pater Cyrillus Reinheimer beeinflusste die Entwicklung des Liebeswerkes zu einem katholischen Erziehungsverein massgeblich (Teil 2). Er entwickelte ein eigenes Erziehungsprofil und modernisierte die Vereinsarbeit. Das im katholischen Vereinswesen weit verbreitete Konkurrenzdenken und die Angst vor einer Entkatholisierung verhinderte eine Zusammenarbeit mit anderen katholischen und staatlichen Wohlfahrtsorganisationen. In der Weimarer Republik musste das Verhältnis zur den öffentlichen Wohlfahrtsverbänden neu definiert werden, wollte man von den Subventionen des «unchristlichen» Weimarer Wohlfahrtstaates profitieren (Teil 3).

In Teil 4 zeigt Henkelmann, dass das Seraphische Liebeswerk im «Dritten Reich» in seiner Vereinstätigkeit stark behindert aber nicht verboten wurde. Finanzielle Probleme und ein deutlicher Mitgliederrückgang waren die Folgen.

Im Zeitraum von 1945–1971 (Teil 5) verabschiede sich das Seraphische Liebeswerk endgültig vom Milieu. Die Theologie der fünfziger Jahre und das Zweite Vatikanische Konzil leiteten die Öffnung der katholischen Kirche hin zur modernen, säkularen Welt ein was für das Seraphische Liebeswerk die Einbindung in den öffentlichen Wohlfahrtsektor möglich machte.

Für die Erforschung des katholischen Milieus in Deutschland liegt mit der Studie Andreas Henkelmanns ein weiterer Baustein vor. Der Autor ordnet die Geschichte des Seraphischen Liebeswerks in die katholische Milieuforschung ein und zeigt die Reichweite, aber auch die Grenzen des Milieus auf das Seraphische Liebeswerk auf. Die Entstehungsphase bis zur Jahrhundertwende und die Veränderungen in den 1950er und 1960er Jahren lassen sich in die gängige Milieutheorie fassen, die Zeit dazwischen nicht. Henkelmann stellt am Schluss die Milieutheorie nicht in Frage, sondern plädiert für ein offeneres Milieuverständnis. Das katholische Milieu solle nicht als ein nach dem Kulturkampf abgeschlossenes Gebilde betrachtet werden, sondern stärker im Spannungsverhältnis von Kontinuität und Wandel sowie Homogenität und Heterogenität gesehen werden, denn erst mit diesem erweiterten Blickfeld schaffe man es, die historischen Prozesse jenseits von teils engen theoretischen Konzepten deutlich zu erfassen. Es bleibt zu wünschen, dass der Ansatz der Studie, sich für ein offeneres Milieuverständnis einzusetzen, für andere Organisationen, für andere Länder oder auf anderen Ebenen fortgeführt wird.

Zitierweise:
Matthias Schmidhalter: Rezension zu: Andreas Henkelmann, Caritasgeschichte zwischen katholischem Milieu und Wohlfahrtsstaat. Das Seraphische Liebswerk 1889–1971 (=Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Bd. 113), Paderborn, Verlag, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 353-354.

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